Sonja Stipsits, „…so giebt es nichts Widerwärtigeres, als ein die gesteckten Grenzen überschreitendes Mannweib.“[1]
Die konstruierte Devianz – Argumente gegen das Frauenstudium und Analyse der Umstände, die 1900 dennoch zur Zulassung von Frauen zum Medizinstudium geführt haben.
In: Birgit BOLOGNESE – LEUCHTENMÜLLER, Sonia HORN (Hg.) Töchter des Hippokrates. 100 Jahre akademische Ärztinnen in Österreich (2000) 37-40.
Die erste Promotion einer Frau in Österreich – der lange Weg
1897 promovierte die erste Frau an einer österreichischen Universität. Ihr Medizinstudium absolvierte sie allerdings in der Schweiz, praktizieren will sie in der Heimat. Gabriele Possanner von Ehrenthal ist bei der feierlichen Promotion am 2. April 1897 im Festsaal der Universität Wien siebenunddreißig Jahre alt. Eine Bummelstudentin? Nein. Nur zu früh und mit dem falschen Chromosom geboren, am 27. Jänner 1860 in Ofen (Budapest). Diese Gegebenheiten haben Gabriele Possanner niemals daran gehindert, unbeirrt ihren Weg zu gehen. Mit Pioniergeist stürmte sie die männliche Bastion der Medizin, den damals schon alten Kaiser Franz Josef, zwei Innenminister, drei Minister für Kultus und Unterricht, vier Rektoren der Universität Wien und vier Dekane der medizinischen Fakultät hat Gabriele Possanner mit ihrer Hartnäckigkeit erfolgreich „gequält“ und ist wesentlich daran beteiligt, dass Frauen im Jahr 2000 das hundertjährige Jubiläum ihrer Zulassung zur medizinischen Fakultät feiern können.
Der Lebenslauf[2] der Gabriele Possanner von Ehrenthal kann nicht als Exempel für die ersten weiblichen Studenten in Wien gesehen werden, da sie ihr Studium in Zürich absolvierte. Ihre Biographie kann aber als Exempel gesehen werden, für das Leben einer Pionierin, einer absoluten Ausnahmefrau, die jede nur erdenkliche Ehrung verdient. Gabriele Barbara Maria Possanner von Ehrenthal wurde am 27. Jänner 1860 in Ofen (Budapest) geboren. Entsprechend dem typischen Wanderleben einer k.k. Beamtenfamilie, der Vater war Finanzsekretär, verbrachte Gabriele die ersten 20 Jahre ihres Lebens in sechs verschiedenen Städten. In der Familie der Mutter gab es zwei Mediziner. Gabrieles Großvater und ihr Onkel waren Generalstabsärzte in der Armee. Gabriele wuchs mit sieben jüngeren Geschwistern auf. Ab Oktober 1880 lebt die Familie in Wien 1, Ballgasse 6/11. Der Vater wird Sektionschef im Finanzministerium. Gabriele ist zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt. Ab 1881 absolviert Gabriele die Lehrerinnenbildungsanstalt mit einem Reifezeugnis, das zum Unterricht für Volksschulen und Kindergärten befähigt. Im Anschluss bereitet sie sich mit privaten Lehrern auf die Ablegung der Maturitätsprüfung vor, wissend, damit in Österreich nichts anfangen zu können. Ihr Ansuchen an den niederösterreichischen Landesschulrat wird positiv beantwortet, am 28. September 1887 tritt die 27jährige zur Externistenprüfung an, absolviert die mündlichen Fächer, tritt aber vor Ablegung der schriftlichen Prüfung zurück. Am 15. Dezember 1887 tritt sie erneut zur Prüfung an, am akademischen Gymnasium in Wien, und wird für reif erklärt. Matura, die Erste. Nun hatte Gabriele ein Zeugnis in der Hand, in dem laut Gesetz die relevante Klausel „… zum Besuch einer Universität“ aufgrund der Gesetzeslage weggeblieben war. In Österreich konnte sie ohnehin nicht studieren, sie entschied sich für die Schweiz, wo bekannterweise seit 1864 Frauen, vor allem Ausländerinnen zum Studium zugelassen wurden.
Am 21. April immatrikuliert Gabriele an der „Zürcherischen Hochschule und belegt in ihrem ersten Semester 31 Wochenstunden. Im Sommersemester 1889 studiert Gabriele Possanner an der Universität Genf. Es war in dieser Zeit durchaus üblich, renommierten Professoren an deren Lesungsorte nachzureisen. Als sie zu Beginn des Wintersemesters 1889/1890 das Ansuchen zur 1. Staatsprüfung stellt, folgt eine böse Überraschung. Sie müsse ein schweizerisches Maturitätszeugnis vorweisen, um für diese Examina zugelassen zu werden. Es blieb ihr also nicht erspart, trotz einiger Anerkennungsgesuche, die Matura auch in der Schweiz abzulegen. Die Kommission erließ ihr jedoch die Prüfung in Geschichte, Chemie und Naturgeschichte, sie durfte die restlichen Prüfungen in Englisch ablegen.
Am 28. Juni 1890 hat Gabriele Possanner zum zweiten Mal in ihrem Leben eine Matura positiv bestanden. So konnte sie nun doch zeitgemäß zur ersten Staatsprüfung antreten und im Wintersemester 1890/1891 mit dem zweiten Studienabschnitt beginnen. Ein Jahr später bestand sie die zweite Staatsprüfung. Im Sommersemester 1893 schließt Gabriele ihr Studium ab, und widmet sich ihrer Dissertation mit dem Titel „Über die Lebensdauer nach dem Auftreten von ,Rentinitis albuminurica'“. Schon während des dritten Studienabschnittes befasst sich Possanner intensiv mit der Augenheilkunde. Im Dezember 1893 legt sie in Zürich die Medizinische Fachprüfung ab. Die vor allem bei der mündlichen Prüfung sechsmal erreichte Note „sehr gut“ und zweimal erreichte Note „gut“ kann als herausragendes Resultat bezeichnet werden.
Das eidgenössische Diplom berechtigt sie, als praktische Ärztin in allen Kantonen der Schweiz zu arbeiten. Gabriele will als Ärztin aber in ihrer Heimat wirken. So bewarb sie sich um eine Anstellung als Amtsärztin in den annektierten Gebieten Bosnien und Herzegowina. In den folgenden zweieinhalb Jahren ließ sie nichts unversucht, ihren Wunsch durchzusetzen, und schrieb ein Gesuch nach dem anderem. An den Vorstand der II. psychiatrischen Klinik in Wien, an das Ministerium für Kultus und Unterricht mit der Bitte um Zulassung als Volontärärztin, ein weiteres Gesuch an das Kultusministerium mit der Bitte um Nostrifikation ihres Schweizer Doktordiplomes. Sie brachte eine Petition an das Abgeordnetenhaus ein, in Österreich praktizieren zu dürfen, und eine an das medizinische Dekanat mit der Bitte um Zulassung zu den Rigorosen. Ein Gnadengesuch ging gar an Kaiser Franz Josef persönlich, mit der Bitte, ihr die „Ausübung der ärztlichen Praxis in Österreich aller gnädigst zu bewilligen … da zahlreiche Mädchen und Frauen sich scheuen beim Beginne einer Krankheit einem männlichen Ärzte sich anzuvertrauen, infolgedessen solche Leiden sich steigern und oft unheilbar werden“.
Das Ergebnis: der Kaiser ermächtigte den Innenminister, die Zulassung zum Praktizieren auf dem Gebiet der Geburtshilfe und Frauenheilkunde zu befürworten, wenn der Vorstand er 1. geburtshilflichen Klinik ihre Fachkompetenz bestätigen würde. Professor Schauta sprach sich für die Erteilung der Venia practicandi an Possanner aus, jedoch nicht nur für die Spezialgebiete Geburtshilfe und Gynäkologie sondern für das gesamte Gebiet der Medizin. Das ging dem Innenminister allerdings zu rasch, auf jeden Fall sollte Possanner die Rigorosen in Wien noch einmal ablegen. Im Zuge dieser Entwicklung entstand ein Entwurf zu einer Verordnung der Nostrifikation ausländischer medizinischer Doktordiplome, der am 19. 3. 1896 tatsächlich als in Kraft trat. Ein Riesenschritt war getan. Gabriele richtete daraufhin gleich ein Gesuch um Nostrifikation ihres Schweizer Diploms an das medizinische Dekanat.
Die Antwort war positiv, allerdings musste sie sich sämtlichen praktischen und theoretischen Prüfungen an der medizinischen Fakultät unterziehen. Medizinstudium, die zweite. In der Zeit von März 1896 bis zum November 1897 legte sie alle Prüfungen des Medizinstudiums in Österreich noch einmal ab und beendete das dritte Rigorosum am 29. März 1897. Am Freitag, dem 2. April 1897 fand endlich die erste Promotion einer Frau auf österreichisch-ungarischem Boden statt.
Possanner ist siebenunddreißig Jahre und hat ihr Ziel erreicht. Freudige Reaktionen dazu finden sich in der Arbeiterinnen-Zeitung:
„Der erste weibliche Doktor promoviert. Ein bedeutsames und alle denkenden Frauen erfreuliches Ereignis hat sich vollzogen. Der erste weibliche Doktor der gesamten Heilkunde wurde am 2. d. M. (Anm. April) an der Wiener Universität feierlich promoviert. Baronin Gabriele Possanner v. Ehrenthal ist der erste weibliche Arzt in Wien. Gabriele Possanner, obwohl n u r ein Weib, wurde es bedeutend schwerer gemacht, in Wien den Doktorgrad zu erreichen, als es bei ihren männlichen Kollegen üblich ist. Baronin Possanner musste sich in Zürich den Doktorhut erwerben und ehe er in Wien anerkannt wurde, musste sie hier noch einmal alle Rigorosen der Wiener Universität wiederholen. Sie als Weib hatte doppelte Prüfungen zu bestehen und sie hat sie glänzend bestanden … Auf ihre Promovierung hatte sich auch großes Interesse gelenkt und ein zahlreiches Publikum hatte sich zu derselben im Festsaal der Wiener Universität eingefunden. Allerdings bestand das Publikum nicht aus lauter Personen, die für die große Bedeutung der Promovierung einer Frau zum Arzt das nöthige Verständnis besaßen. Manche konnten ihre bornierten Gefühle nicht beherrschen, und äußerten sie durch Zischen, während das verständige Publikum seinen Beifall gab.“[3]
Ein besonderes Zuckerl ist uns durch die eifrige Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung erhalten. Die Rede des Rektors der Universität, Dr. Reinisch, an die Promoventin im Originalwortlaut: [4]
„Die heutige Promotionsfeier gewinnt für unsere Hochschule noch eine besondere Bedeutung. Seit dem Bestehen unserer alterwürdigen Alma mater[5] wird heute zum erstenmal einer Dame der Doktorgrad zuerkannt und verliehen. Ich beglückwünsche Sie, meine hochgeehrte Kandidatin, Fräulein von Possanner, deshalb auf´s herzlichste und zolle Ihnen meine achtungsvolle Anerkennung umso bereitwilliger, weil es weit und breit bekannt geworden ist, wie Sie durch große Energie und Intelligenz die Ihrem hohen Ziele sich so vielfach entgegenstemmenden Hindernisse siegreich zu überwinden und zu beseitigen verstanden haben. Ich beglückwünsche Sie ferner als muthige und siegreiche Vorkämpferin um Erweiterung der Frauenrechte. Mag man über diese Frage denken, wie man will, so viel wird jeder vorurteilsfreie Denker zugestehen müssen, daß durch Erweiterung des geistigen Gesichtskreises der Frauen auch das gesamte Volk auf ein höheres intellektuelles und moralisches Niveau emporgehoben werden wird …“.
Mit der hartnäckigen kleinen Dame Gabriele Possanner hatten sich im Zeitraum 1894 bei 1897 der alte Kaiser, zwei Minister des Inneren, drei Minister für Kultus und Unterricht, vier Rektoren der Universität Wien und vier Dekane des Medizinischen Fakultät auseinanderzusetzen. Possanner meldete sich vorschriftsmäßig am 1. Mai 1897 beim Wiener Stadtphysikat an und eröffnete am Montag, dem 10. Mai 1897 ihre Praxis als praktische Ärztin in Wien, IX, Günthergasse 2, 1. Stock. Die Ordinationszeiten waren täglich von 15 bis 16 Uhr.
Gabriele Possanner war in jeder Beziehung ihrer Zeit voraus. Als es zu Neuwahlen bei der Wiener Ärztekammer kam, fand sie ihren Namen nicht auf der Liste. Begründung: es gibt generell kein Wahlrecht für Frauen, weder aktiv noch passiv in Österreich. Wie in jeder Situation ihres Lebens hat sich Gabriele beschwert und Einspruch erhoben. Bereits bei den nächsten Ärztekammerwahlen 1904 durfte sie nicht nur wählen, sondern wurde als erste Frau als „Ersatzmitglied“ in die Kammer gewählt. Ein kurzer Abriss ihrer beruflichen Laufbahn. 1902 wurde sie Aspirantin am Kronprinzessin Stephanie-Spital im 16. Bezirk, und blieb bis 1903 die einzige Ärztin an einer der k.k. Krankenanstalt. Um 1906, der Vater war bereits verstorben, mietet die Mutter Gabrieles für sich und ihre Töchter Camilla, Emma und Marie eine Wohnung in Wien IX, Alserstraße 26., 3. Stock, Tür 14. Dorthin zieht auch sie 1907 und führt dort ihre Praxis weiter. Nach dem Ersten Weltkrieg tritt sie dem Wiener medizinischen Doktoren-Kollegium als erste Frau bei. Reich wird Gabriele Possanner mit ihrer bescheidenen Praxis nicht. In den Jahren der Inflation sucht sie um Befreiung des Mitgliedsbeitrages beim Doktoren-Kollegium an. Sie ist 68 Jahre alt, als ihr eine große Ehrung zuteil wird. Man verleiht ihr als erster Ärztin den seit 1912 bestehenden Titel „Medizinalrat“. Bis zum Schluß ist Possanner ihrer heiß geliebten und hart erkämpften Berufung nachgegangen. Am 14. März 1940 stirbt sie in ihrer Wohnung in der Alserstraße im 81. Lebensjahr. Sie war 43 Jahre lang Ärztin. Vor ihrem Tod sagte sie zu ihrem Neffen den Satz: „Ich habe viel helfen können und helfen ist doch das Schönste!“[6] Anlässlich ihres 100. Geburtstages wurde ihr 1960 in Wien 13 die „Possannergasse“ gewidmet.
Trotz der salbungsvollen Worte bei der ersten Promotion einer Frau und der Feuerrede des Rektors für das Frauenstudium, blieb Gabriele Possanner vorerst eine Exotin. Es dauerte drei weitere Jahre bis die medizinische Fakultät ihre Tore für Frauen öffnete.
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[1] Hermann SCHELENZ, Frauen im Reiche Aeskulaps. Ein Versuch zur Geschichte der Frau in der Medizin und Pharmazie unter Bezugnahme auf die Zukunft der modernen Ärztinnen und Apothekerinnen (Leipzig 1900) 73.
[2] Sämtliche Informationen zu Gabrielle Possanner stammen aus der biographischen Arbeit von Marcella STERN, Gabriele Possanner von Ehrenthal, die erste an der Universität Wien promovierte Frau, In: HEINDL/TICHY, Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück.
[3] Arbeiterinnen-Zeitung, 8/1897, 7f.
[4] Arbeiterinnen-Zeitung, 8/1897, 7f.
[5] Anmerkung: Gründung der Alma mater Rudolfina 1465.
[6] Die Presse, 4.4.1957.