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Am Anfang des 16. Jahrhunderts wurde die mittelalterliche Auffassung der Funktionen von Enzephalon übernommen. Laut dieser sind die Sinnesorgane mit der ersten Gehirnhöhle, dem Sitz der Empfindungen, verbunden. Diese Höhle ist mit der zweiten Höhle verknüpft, wo sich die Gedanken und die Vernunft befinden. Dazu kommt die dritte Höhle, in der sich das Gedächtnis befindet.
Während der Renaissance begannen viele Ärzte an der Idee festzuhalten, dass die bloße Lektüre antiker Autoren nicht ausreichte. Andreas Vésale (1514-1564), flämischer Anatom, erneuerte die Anatomie, indem er der Textüberlieferung gegenüber körperlichen Beweisen den Vorzug gab und durchsetzte, dass anatomische Kenntnisse durch Überprüfung des Seh- und Tastsinnes festgelegt wurden. Was die Nerven betrifft, nahm er systematisch das morphologische Problem des zentralen und peripheren Nervensystems in Angriff und widerlegte damit, was durch die Überlieferung übermittelt worden war.
Nach Galens ‘Physiologie’ hatte das sogenannte Wundernetz (rete mirabilie, das bei Huftieren aber nicht bei Menschen vorhanden waren) den Auftrag, den Lebensgeist in psychischen Pneuma zu verwandeln. Der Körper war nämlich die Stelle für den Aufbau dreier verschiedener Arten von Pneuma (dem Geist, der Lebenskraft). Diese Pneuma-Formen wurden mit drei Hauptorganen des Körpers assoziiert: Leber/Adern; Herz/Arterien; Gehirn/Nerven. Das Pneuma wurde in der Leber in natürliches Pneuma umgewandelt, das durch die Adern verteilt wurde, um den Körper zu ernähren und ihn gedeihen zu lassen. Lebenspneuma entstand dagegen im Herzen und wurde von Arterien im ganzen Körper verteilt, der damit belebt wurde. Die dritte Form des Pneumas saß im Gehirn und entsprach dem psychischen Pneuma, für die Bewegung sowie die Wahrnehmungsfähigkeiten verantwortlich.
In seinem Werk De humani corporis Fabrica (1543) verneinte Vésale die Existenz des Wundernetzes und startete eine kritische Überprüfung der durch die galenische Tradition übergetragenen Erkenntnisse über das Nervensystem.
Beitrag 2
Im Allgemeinen wurden die Krankheiten des zentralen und peripheren Nervensystems auf einen Überfluss vom feuchten und kalten Schleim zurückgeführt. Dieser behinderte den Durchgang des „psychischen Pneumas“, der vom Gehirn durch die Nerven transportiert wurde. Dieses Pneuma bewirkte sowohl die Bewegungen des Körpers als auch die Sinneswahrnehmungen. Diese „verstopften Nerven“ verursachten Gefühllosigkeiten oder Tremor, wie aus dem folgenden medizinischen Ratschlag (consilium medicum) hervorgeht.
Der hier erörterte Ratschlag wurde von Iulius Alexandrinus 1554 zusammen mit Petrus Andreas Matthiolus erarbeitet und an den Erzherzog Ferdinand von Österreich, Zweitgeborenen von Ferdinand I., gerichtet. (Der Ratschlag ist bei der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Codex 11155 Han, Blätter 27-35 aufbewahrt).
Ferdinand litt an Schwindel (vertiginis) sowie Nervenblockaden (nervorum obstructiones), die ihrerseits Gefühllosigkeit in den Unterarmen (stupor brachiorum) sowie Betäubung (imbecillitas capitis) hervorriefen. Nach Meinung der Ärzte hatte die kalte und feuchte Luft Ferdinands Kopf und den ganzen Körper geschwächt. Aus diesem Grund sollte er feuchtes, kaltes und windiges Wetter meiden. Ebenso wenig sollte er sich Regen und starkem Schneefall aussetzen.
In Bezug auf das Ernährungsverhalten empfhalen Matthiolus und Alexandrinus die folgenden Speizsen zu meiden:
- Fleischsorten die einen fettigen und schleimigen Saft erzeugten (Fleisch von Ochs und Hirsch);
- Umso mehr Fleisch von alten Tieren
- Fleischsorten, die wenig gekocht wurden
Außerdem verbot man auch Milch, die für Personen mit Kopfschmerzen schädlich war und schnell im Magen faulte. Zudem verbot man auch Käse, vor allem alte und fettreiche Käsesorten, weil er fettreiche Säfte aus Schleim produzierte und Katarrh (ein anderes Wort für Schleim) mehr werden ließ. Obwohl alle Fische feuchten Schleim im Magen erzeugten, durfte der Patient Flussfische verspeisen.
Als Kur für den Schwindel, sowie die Gefühllosigkeit in den Unterarmen verschrieben Matthiolus und Alexandrinus eine Drachme mitbridatum. Das mithridatum war ein altes Heilmittel zur Linderung von Kopfschmerzen verschiedenen Ursprungs. Es war eigentlich ein Vorgänger des Theriaks, dem das Fleisch einer Viper hinzugefügt wurde. Mithridatum nützte denjenigen, die an Nervenlähmung, Katarrh und Ohrbeschwerden litten. Die zweite Ärzte waren außerdem der Meinung, dass ein warmes Bad mit Lauge und Weißwein dem Patienten Erleichterung bringen konnte. Es war empfohlen, die Arme mit warmem Muskatnussöl einzureiben und sie danach in ein warmes Tuch zu wickeln.
Schwindel und Kopfschmerz konnten durch die Einnahme einer Guaiacumholz-Abkochung mit Zusatz von Echter Betonie beseitigt werden, die Fröhlichkeit auslöste, die Energie des Geistes aufrechterhielt, die Fähigkeiten schärfte, das verlorene Hörvermögen stärkte und den Magen von schädlichen Säften säuberte. Guaicumholz hatte seinen Ursprung in der Neuen Welt, genauer gesagt, auf der Hispaniola Insel in der Karibik. Es wurde am Anfang des 16. Jahrhunderts in Therapeutik eingeführt, nachdem erkrankte Personen aus Portugal meinten, dass sie durch dieses Holz gesund geworden wären. Seitdem verbreitete es sich in ganz Europa. Nachdem der Patient einmal Abführmittel eingenommen hatte und nüchtern geblieben war, sollte er den abgekochten Guaiacum zweimal pro Tag trinken. Dazu kam die Schwitzen-Phase, die in einem erwärmten Zimmer ablief, wo der Patient in Decken eingehüllt wurde. Hieronymus Fracastorius von Verona (1476-1553), Amtsarzt beim Konzil von Trient, vertrat die Auffassung, dass das Guaiacumholz vier nützliche Auswirkungen hatte: das Trocknen des Körpers, die Absonderung von Schweiß, wodurch sich der faule Stoff verflüchtigte und auflöste, den Kampf gegen die Verwesung und den Darmausfluss.
Falls der Schwindel und das Schwächegefühl durch die verschriebenen Heilmittel nicht verschwunden wären und der Patient noch dem Schleim geschuldete Beschwerden gehabt hätte, hätte man die Hämorrhoidalvenen mit Blutegel bedecken müssen. Matthiolus und Alexandrinus empfahlen auch wirksamere Heilmittel, wie zum Beispiel das cauterium und den fonticulus (oder fontanella), die jene zu Kopf steigenden Dämpfe zerstreuten. Das cauterium war ein sehr alter glühender Gegenstand aus Eisen, der bereits vor Hippokrates zur Erzeugung einer Brandwunde benutzt wurde. Diese zerstörte äußerliche Entzündungen und Schwellungen. Das cauterium wurde auch verwendet, um auf künstliche Art und Weise ein dauerhaftes Geschwür zu erzeugen, aus dem die schadhaften Stoffe ausgeschieden werden konnten.
Beitrag 3
Von chirurgischen Behandlungen berichtet Juan Fragoso (1530-1597) in seinem Traktat Cirugia universal (1573). Davon gab es verschiedene Ausgaben in spanischer und italienischer Sprache. In seinem Werk unterteilte Fragoso Nervenwunden in drei Arten: Schnittwunden, durch spitze Gegenstände verursachte Wunden (wie zum Beispiel Nägel), durch Quetschungen bewirkte Wunden. Die durch spitze Gegenstände verursachten Wunden mussten sorgfältig behandelt werden. Sie zogen Entzündungen, Krämpfe und Betäubung nach sich, weil die Nerven mit dem Gehirn verbunden waren. Diese Wunden wurden sowohl durch Schmerzlinderung als auch durch Ausleitung der Feuchtigkeit nach außen geheilt. Die Wunden sollten nicht geschlossen werden sondern offen bleiben, um den faulen Stoff ausscheiden zu können. Zusätzlich sollten sie mit dünnen Medikamenten behandelt werden, die in den verletzten Nerv eindringen konnten, wie zum Beispiel Holunder-Öl, Terpentin-Pistazien-Öl, Wolfsmilch-Öl und Rosenöl. Diese Salben wurden nur dann angewandt, wenn sie warm waren. Hippokrates behauptete nämlich, dass die Kälte Feind von Knochen und Gehirn war, die sowohl wenig Blut als auch wenig Wärme enthielten. Um den Schmerz zu lindern, konnte man ein narkotisches Medikament einnehmen, das die Sinne schläfrig machte, wie zum Beispiel Schlafmohndekokt (Papaver somniferum). Ein Umschlag sowohl mit verschiedenen Mehlen als auch Essig bewahrte die Nerven vor Zersetzung. Bei entblößten Nerven wurden „weder dünne noch starke“ sowie trocknende Medikamente empfohlen, wie zum Beispiel das ceratum (oder emplastrum) diachalciteos. Dieser Umschlag wurde folgendermaßen vorbereitet: eine Mischung aus Schweineschmalz, Vitriol und Alaun verflüchtigte sich durch die Wärme, dann wurden Palmenzweige mit entfernter Rinde hinzugefügt. Das ceratum diachalciteos wurde bei blutenden Wunden gebraucht. Im Fall von kleinen Schnitten hat Alaun blutstillende Kräfte; Vitriol, überhaupt blauer Vitriol, wurde genutzt, um den Blutfluss zu stoppen.
Um den Schmerzen der Nerven zu reduzieren wurde Aconitum napellus, auf die Haut verwendet, obwohl diese Pflanz Alkaloide enthält und daher giftig ist.
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Was die Behandlung der Nervenbeschwerden mit Thermalwässern betrifft, experimentierte Petrus Andreas Matthiolus bei der Heilung geschnittener Nerven mit dem Wasser von Bormio (im oberen Veltlin, Italein) und dessen Wirkung. Matthiolus erklärte, die Bäder in Bormio heilten die durch Lähmung betroffenen Personen, sowohl diejenige die Gefahr liefen, einen Schlaganfall zu erleiden und als auch jene die an Krämpfen, Gefühllosigkeit sowie an Tremor und Schlaffheit in Teilen des Körpers litten. Außerdem trockneten diese Wässer den Katarrh (anderes Wort fur Schleim) und milderten den durch kalte Säfte verursachten Schmerz im Körper. Eine lindernde Auswirkung auf die Nerven wurde auch von dem Kamaldulensem Klosterbruder Ventura Minardo bestätigt. In seinem Werk De balneis Calderii in agro Veronensi (1571), das die von mehr Ärzten ausgeführten Untersuchungen der Thermalwässer in Caldiero (Verona) versammelt, können wir lesen, dass diese “nervis mitigando dolores spasmosos” nützen.